Miracle on Road
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Das Straßenrennen der Frauen schrieb mehrere Geschichten. In jeder davon in der Hauptrolle: Olympiasiegerin Anna Kiesendorfer. 41 Jahre nach dem „Miracle on Ice“ sorgte die Radfahrerin mit dem „Miracle on Road“ für eine der größten Olympia-Sensationen der Geschichte.
Die Geschichte mit dem Gold
Es war die erste Medaille für das Olympic Team Austria in Tokio. Die erste Goldmedaille für Österreich bei Sommerspielen seit 2004, als Roman Hagara und Hans-Peter Steinacher sowie Kate Allen Gold gewonnen hatten. Außerdem war es die erste Goldmedaille im Radsport seit 125 Jahren, als Adolf Schmal 1896 in Athen in einem kuriosen Zwölfstundenrennen auf der Bahn Gold holen konnte. „Was ich geschafft habe, kann ich noch nicht wirklich realisieren. Ich weiß noch nicht, was mit in der Konsequenz alles erwartet“, so Kiesenhofer.
Die Geschichte mit dem Vertrag
Die Niederösterreicherin ist international kein Star. Seit 2018 fährt sie überhaupt nur mehr in einem kleinen Team, UCI-Rennen so gut wie keine. „Ich würde nicht sagen, dass ich schlechter oder weniger trainiere als andere Fahrerinnen. Aber die Situation ist sicher eine andere“, meint die 30-Jährige. Nachdem sie eigentlich mit Triathlon begonnen hatte, vor ein paar Jahren das Laufen aber aufgeben und sich auf das Radfahren spezialisieren musste, erzielte sie einige Erfolge. Ein Profi-Vertrag im Jahr 2017 war die Folge, den sie jedoch nicht erfüllen sollte. Der Grund? „Ich bin mehr eine Einzelkämpferin, fahre für mich. Helfen oder große Abmachungen sind nichts für mich. Mit ist es lieber, wenn ich mein Ding durchziehen kann.“
Die Geschichte mit der Konkurrenz
Ihr eigenes Ding durchziehen wollte sie, und tat es sofort. Kurz nach Rennstart setzte sich Kiesenhofer ab, eine fünfköpfige Ausreißergruppe formierte sich. „Da ist mir sicher entgegengekommen, dass mich kaum jemand auf der Rechnung hatte. Wenn das eine Top-Fahrerin ist, wird sie sofort eingeholt“, denkt die frischgebackene Olympiasiegerin. Das Loch wurde größer und größer, das Rennen neigte sich immer mehr dem Ende zu.
Die Geschichte mit dem falschen Jubel
Im Ziel auf dem Fuji-Speedway triumphierte Kiesenhofer mit 1:15 Minuten Vorsprung auf die Niederländerin van Vleuten und 1:29 auf die Italienerin Elisa Longo Borghini, die auch schon 2016 in Rio Dritte war. Kuriose Szenen spielten sich bei der Zieleinfahrt der Niederländerin ab. Van Vleuten hatte ohne Funkverbindung zum Betreuerauto auch nicht um die exakte Rennsituation gewusst. Denn die früh in einen Sturz verwickelte 38-Jährige hatte geglaubt, die Ausreißerinnen seien eingeholt und war jubelnd ins Ziel gerollt. „Ich verstehe nicht, wie das passieren kann. Sie hatten genügend Leute entlang der Straße mit Handys und hätten wissen müssen, wie es steht“, so Kiesenhofer. „Aber es stört mich nicht sonderlich.“
Die Geschichte mit den Zahlen
Radfahren und Mathematik. Darum dreht sich Kiesenhofers Leben. Denn die Niederösterreicherin ist im Gegensatz zu den meisten ihrer Konkurrentinnen keine Profi-Radrennfahrerin, sondern promovierte Mathematikerin. 2016 machte sie an der Universitat Politècnica de Catalunya ihren Doktortitel, seit 2017 ist sie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (EPFL) in Lausanne angestellt. Die letzten zwei Jahre widmete sie trotzdem den Olympischen Spielen: „Es ist nicht so, dass ich das alles nebenbei gemacht habe. Ich habe mich gezielt auf Tokio vorbereitet, auch die Bedingungen hier.“ Schon immer haben Zahlen in ihrem Leben eine wichtige Rolle gespielt: „Ich wollte früh wissen, wie die Welt funktioniert. Eigentlich haben mich schon immer Dinge interessiert, die andere nicht interessiert haben. In der Schule neben Mathematik auch Physik oder Latein.“
Die Geschichte mit der Angst vor der Blamage
Zu Beginn des Tages ließ sich Kiesenhofer beim „Einfahren“ aus dem Feld zurückfahren. Einige Meter hinter allen anderen radelte sie ihr eigenes Tempo, um besser aufgewärmt zu sein. „Ich schwimme nicht gerne im Feld mit, ich muss treten damit Blut in die Beine kommt. Deswegen habe ich mich etwas zurückfallen lassen. Aber ich wollte es auch nicht zu blöd aussehen lassen, nicht dass ich Österreich blamieren“, kann Kiesenhofer scherzen. Von einer Blamage war knapp vier Stunden später keine Rede mehr. Vielmehr von der größten Sternstunde in Österreichs Sommersport seit langer Zeit.